Experteninterview mit Dr. med. Wolfgang E. Paulus: Einnahme von Schmerzmitteln in der Schwangerschaft

Die Bio-Apo im Experteninterview mit Dr. med. Paulus

Ob rezeptfrei oder verschreibungspflichtig – bei der Einnahme von Medikamenten während der Schwangerschaft & Stillzeit ist Vorsicht angezeigt. Arzneimittel können nötig sein, um die Gesundheit und das Wohlbefinden der werdenden bzw. stillenden Mutter zu gewährleisten – doch manche pharmazeutischen Wirkstoffe können dem ungeborenen Kind schaden.

Viel diskutiert wird insbesondere die Frage, ob Schmerzmittel in der Schwangerschaft vertretbar sind:
Paracetamol galt über lange Jahre als Mittel der Wahl bei leichten Schmerzen und Fieber, doch eine aktuelle Studie deutet auf mögliche Risiken für die kindliche Entwicklung hin. Ist das Mittel nun also tabu für Schwangere?

In unserem Interview mit Dr. Wolfgang E. Paulus, einem anerkannten Spezialisten für Pränatalmedizin an der Uniklinik Ulm, erfahren Sie:

  • was werdende Mütter über Paracetamol und anderen Schmerzmittel wissen müssen,
  • warum ein vollständiger Medikamentenverzicht während der Schwangerschaft weder nötig noch ratsam ist,
  • wo sich Schwangere & Stillende zuverlässig über die Verträglichkeit von Medikamenten informieren können.

Dr. Paulus: Für Nicht-Mediziner ist es oft schwierig, wissenschaftliche Studien korrekt zu interpretieren – und leider ist auch die Berichterstattung der Medien hier oft wenig hilfreich. Die von Ihnen angesprochene Studie, die im vergangenen Jahr in den Nature Reviews Endocrinology veröffentlicht wurde, enthält zwei internationale Konsensempfehlungen:

  • Schwangere sollten Paracetamol nur unter strenger Indikationsstellung und in der niedrigsten wirksamen Dosis für die kürzestmögliche Zeit einnehmen.
  • Angesichts der weltweit hohen Konsumraten von Paracetamol ist gezielte Forschung nötig, um zu klären, inwieweit dieses Schmerzmittel die fetale Entwicklung beeinträchtigen und zu unerwünschten Ergebnissen bei den Nachkommen führen könnte.

Diese Konsensempfehlungen wurden von 91 US-amerikanischen und europäischen Experten unterzeichnet. Sie beruhen auf einer umfassenden Metastudie, die sowohl epidemiologische als auch relevante experimentelle Forschungsberichte aus den Jahren 1995-2020 auswertet. Demnach besteht der Verdacht, dass eine pränatale Exposition gegenüber Paracetamol das Risiko für Störungen der neurologischen Entwicklung, des Urogenitalsystems sowie des kindlichen Verhaltens (Autismus, ADHS) erhöhen könnte.

Schwangere reagieren auf solche Meldungen naturgemäß sehr sensibel, daher möchte ich betonen: Es handelt sich vorerst um einen Verdacht, d. h., die aktuelle Datenlage lässt noch keine eindeutigen Aussagen zu und es sind noch viele Fragen offen – von möglichen ursächlichen Zusammenhängen über die kritische Dosis und Anwendungsdauer bis hin zu begleitenden Einflussgrößen. Hier sind also weitere Forschungen nötig – und bis zu deren Abschluss rechtfertigt der Verdacht den obigen Warnhinweis.

An dieser Stelle sei an einen ähnlichen Fall erinnert, in dem sich der anfängliche Verdacht nicht bestätigte: Lange wurde ein Zusammenhang zwischen dem Einsatz von Paracetamol in der Schwangerschaft und kindlichem Asthma bronchiale vermutet. Die Studie von Shaheen et al. (2019) jedoch zeigte, dass auch bei Anwendung anderer Schmerzmittel (NSAID, Opioide) durch die Mutter ein erhöhtes Risiko für kindliches Asthma besteht. Daraus ließ sich schlussfolgern, dass wohl eher andere mütterliche Faktoren wie chronischer Schmerz oder Angst für die Entwicklung der kindlichen Beschwerden verantwortlich sein dürften.

Bis zum Vorliegen weiterer wissenschaftlicher Daten sollten wir uns auf Folgendes beschränken:

  • Paracetamol sollte in der Schwangerschaft so kurz und moderat wie möglich dosiert werden (z. B. nicht länger als zwei Wochen). 
  • Ein zwangsläufiges Ausweichen von Paracetamol auf stärkere Schmerzmittel (Analgetika) mit noch unklarerem Wirkungsprofil ist nicht empfehlenswert. 
  • Wichtig ist eine realistische Risikoeinschätzung: Die beobachteten Veränderungen in der Verhaltens- und Geschlechtsentwicklung sind in der Größenordnung nicht vergleichbar mit Komplikationen durch bekannte fruchtschädigende Substanzen wie z. B. Contergan.

Vermehrte Aufklärung in medizinisch-pharmazeutischen Fachkreisen aber auch bei Laien sollte das Bewusstsein für einen verantwortungsvollen Umgang mit Paracetamol in der Schwangerschaft stärken.1

Dr. Paulus: Ein recht häufiges Krankheitsbild in der HNO-Praxis ist die eitrige Nebenhöhlenentzündung, die natürlich auch Schwangere betreffen kann. Es wäre falsch, diese Erkrankung zu verschleppen, weil man sich scheut, notwendige Medikamente einzusetzen, denn ein ausgedehnter bakterieller Infekt der Atemwege mit Fieber kann vorzeitige Wehen auslösen und die Schwangerschaft gefährden.

Dieses Risiko muss keine werdende Mutter eingehen: Es gibt bewährte Medikamente zur Behandlung der eitrigen Nebenhöhlenentzündung, die – bei korrekter Dosierung und Einnahme – auch während der Schwangerschaft ohne Bedenken genommen werden können. In vielen Fällen helfen abschwellende Nasensprays, bei Bedarf kann der HNO-Arzt auch Antibiotika verordnet werden. Sorgfältige Aufklärung und einfühlsames Eingehen auf die Fragen der Schwangeren sind hier sehr wichtig!

Dr. Paulus: Wenn man es so absolut formuliert, dann ja – es gibt zahlreiche Beispiele für einen sinnvollen Einsatz erprobter Arzneimittel in der Schwangerschaft.

Ein erstes Beispiel ist die ausgeprägte Übelkeit im ersten Trimenon: Manche Schwangere können über Wochen nicht genügend Nahrung und Flüssigkeit bei sich behalten. Wenn dann der Kreislauf zusammenbricht, müssen sie im Krankenhaus stationär mit Infusionen stabilisiert werden. Hier empfiehlt sich eine frühzeitige Intervention, bspw. durch die Gabe von Vitamin B6 oder entsprechenden Kombipräparaten, welche die Schwangerschaftsübelkeit wirksam reduzieren können.

Ein weiteres Beispiel sind leichte Harnwegsinfekte, die gerade bei Schwangeren gehäuft auftreten können: Diese kann man zunächst mit reichlicher Flüssigkeitszufuhr zum Durchspülen der Harnwege angehen, viele Frauen berichten auch von guten Erfolgen mit pflanzlichen Präparaten. Wenn jedoch hartnäckige Keime zu einer aufsteigenden Infektion in die Nierenbecken führen, ist ein Arztbesuch zur Verordnung die Medikamente dringend anzuraten.

Dazu kommen die zahlreichen chronischen Erkrankungen, die natürlich auch in der Schwangerschaft eine Fortsetzung der Arzneimitteltherapie erfordern, damit die Grunderkrankung der Mutter nicht die Schwangerschaft gefährdet. Dazu gehören unter anderem Epilepsie, Asthma bronchiale oder Bluthochdruck.

In jedem Fall ist eine sorgfältige Abwägung und ausführliche  Beratung der Schwangeren wünschenswert, um das Wohlergehen von Mutter und Kind bestmöglich zu gewährleisten.

Dr. Paulus: Die traditionelle Pflanzenheilkunde kennt viele Mittel für werdende Mütter – aber auch Heilpflanzen, von denen während der Schwangerschaft ausdrücklich abgeraten wird. Dieses traditionelle Wissen ist die Grundlage für die Entwicklung moderner pflanzlicher Arzneimittel.

Eine pauschale Empfehlung lässt sich hier nicht aussprechen – ebenso wie bei traditionellen Pharmazeutika ist auch bei pflanzlichen Mitteln stets eine individuelle Prüfung und Abwägung erforderlich.

Dr. Paulus: Die empfindlichste Phase in der kindlichen Entwicklung sind die ersten zehn Wochen nach der Empfängnis: In diesem Zeitraum werden die Organe angelegt, so dass eine schädliche Einwirkung auf den Embryo Fehlbildungen auslösen kann. So können also nicht nur Medikamente, sondern auch Drogen, Umweltschadstoffe, Strahlung oder Infektionen zu Fehlbildungen wie Herzfehlern, Neuralrohrdefekten, Gaumenspalten etc. führen.

Allerdings gibt es eine 14-tägige Schonfrist unmittelbar nach Zeugung: In dieser Phase haben die embryonalen Zellen noch ein vielfältiges Entwicklungspotenzial. Wenn es zu einer schädigenden Einwirkung kommt, können die geschädigte Zellen oft so ersetzt werden, dass die weitere Entwicklung ungestört verläuft – es sei denn, der Schaden ist so groß, dass der Embryo abstirbt und mit der nächsten Regelblutung abgeht. Daher spricht man hier auch von der Alles-oder-Nichts-Regel.

Man darf jedoch nicht vergessen, dass auch ohne äußere Einflüsse wie Medikamente das allgemeine Basisrisiko für kindliche Anomalien bei 3 bis 5 Prozent liegt.

Dr. Paulus: Gerade während der Schwangerschaft ist ein sorgfältiger Umgang mit Medikamenten wichtig: Greifen Sie nicht unbedacht zu Tabletten, Salben & Tinkturen, sondern halten Sie stets mit Ihrer FrauenärztIn Rücksprache. Ob Erkrankung oder Unwohlsein – in den meisten Fällen gibt es erprobte Therapieoptionen, die für Mutter und Kind gut verträglich sind. In komplizierten Situationen findet man Unterstützung bei spezialisierten Beratungsstellen für Medikamente in Schwangerschaft und Stillzeit an den Uni-Kliniken in Berlin (www.embryotox.de) oder Ulm (www.reprotox.de).

  1. Shaheen SO, Lundholm C, Brew BK, Almqvist C. Prescribed analgesics in pregnancy and risk of childhood asthma. Eur Respir J. 2019 May 18;53(5):1801090
Experteninterview mit Dr. med. Wolfgang E. Paulus: Einnahme von Schmerzmitteln in der Schwangerschaft

Dr. med. Wolfgang E. Paulus

Dr. med. Wolfgang E. Paulus ist Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Im Laufe seiner langjährigen Tätigkeit hat er sich auf den Bereich der Reproduktionstoxikologie spezialisiert und forscht zu den Auswirkungen potentiell schädigender Faktoren (insb. Medikamente) auf die Entwicklung des ungeborenen Kindes. Seit 2017 leitet er die Beratungsstelle für Medikamente in Schwangerschaft und Stillzeit an der Universitätsfrauenklinik Ulm. Mehr zu Dr. med. Wolfgang E. Paulus