Experteninterview mit Prof. Dr. med. Harald Abele: Depressionen in der Schwangerschaft

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Die Schwangerschaft ist naturgemäß eine sehr emotionale Zeit: Da ist die Vorfreude auf das Kind, aber natürlich auch die Sorge, ob alles gut geht und die Unsicherheit angesichts der anstehenden Veränderungen. Kurze Stimmungstiefs oder auch spontane Tränenausbrüche sind dabei ganz normal – doch bei einer anhaltenden depressiven Verstimmung während der Schwangerschaft oder nach der Entbindung ist ärztliche Hilfe angezeigt.

Wie häufig Schwangere und junge Mütter von Depressionen betroffen sind, woran man diese erkennt und welche Behandlungsmöglichkeiten es gibt, haben wir mit Prof. Dr. Harald Abele, dem stellvertretenden Ärztlichen Direktor für Geburtshilfe am Universitätsklinikum Tübingen, besprochen.

Prof. Dr. H. Abele: Gemäß den Daten der Krankenkassen durchleben ca. 12 von 100 Schwangeren während ihrer Schwangerschaft eine Depression oder depressive Episoden. Noch höher liegt der Anteil derer, die im Wochenbett und bis zu einem Jahr nach der Entbindung eine Depression erleben. Doch nicht jede Stimmungsschwankung muss von Dauer sein: So ist es wichtig und auch beruhigend zu wissen, dass mehr als 50 % aller Mütter im Laufe des 3. bis 5. Tages nach der Entbindung den sogenannten „Baby Blues“ durchleben, also eine kurz andauernde depressive Verstimmung. Neben der Freude über das Baby erleben die Mütter auf einmal Stimmungsschwankungen, Erschöpfung, Müdigkeit und Traurigkeit. Diese Symptome klingen jedoch in der Regel ohne Therapie rasch wieder ab.

Eine andauernde Depression in der Schwangerschaft kann das tägliche Leben stark beeinflussen. Die betroffenen Frauen erleben emotionale Extreme wie große Traurigkeit, Selbstzweifel sowie den Verlust von Interesse und Freude. Oft sind sie auch mit zahlreichen Ängsten und Grübeleien konfrontiert und leiden an Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, Antriebslosigkeit und Konzentrationsschwierigkeiten. Nicht selten berichten die Betroffenen auch von einer großen Erschöpfung bzw. raschen Ermüdung.

Die sogenannte postpartale Depression entwickelt sich bei 10–15 % der Frauen innerhalb der ersten 12 Monate nach der Entbindung. Die betroffenen Frauen erleben hier ebenfalls eine ausgeprägte emotionale Labilität, können sich massiv emotional von ihrem Kind distanzieren und entwickeln teilweise übermäßige Ängste und Sorgen bezüglich der Gesundheit ihrer Kinder. Daneben können auch erhebliche Versagensängsten in der Rolle als Mutter sowie Zwangsgedanken auftreten. Eine Postpartum-Depression sollte ärztlich behandelt werden. Als mögliche Ursachen gelten psychische, körperliche, soziale und gesellschaftliche Faktoren.

Aus ärztlicher Sicht halte ich es für sehr wichtig, Schwangere und Wöchnerinnen für dieses Thema zu sensibilisieren. Ebenso wichtig ist es, auch das familiäre und das professionelle Umfeld der Frauen mit einzubeziehen: Je besser das Krankheitsbild Schwangerschafts-Depression bzw. postpartale Depression bekannt ist, desto besser stehen die Chancen, dass entsprechende Symptome frühzeitig erkannt werden und fachkundige Hilfe eingeholt wird.

 Prof. Dr. H. Abele: Dank der gesetzlich geregelten Schwangerenvorsorge steht Schwangeren und Wöchnerinnen in Deutschland ein sehr starkes Netzwerk zur Verfügung. Hebammen sowie Frauenärztinnen und Frauenärzte können hier eine wichtige Lotsenfunktion übernehmen und Hilfsangebote vermitteln, wenn sie Symptome erkennen, die auf eine depressive Erkrankung hindeuten. Wichtig dabei ist natürlich die Einwilligung der Schwangeren bzw. Wöchnerin, also die Bereitschaft, sich bei einer möglichen Depression professionelle Hilfe zu holen.

Als weitere Anlaufstellen zu nennen sind auch die psychosozialen Beratungsstellen und bundesweiten Beratungs- und Selbsthilfegruppen (z.B. Schatten und Licht e.V.), die ihre Informationsangebote im Internet zur Verfügung stellen. 

Oftmals bieten auch Krankenhäuser spezialisierte Ansprechpartner: So haben wir zum Beispiel in Tübingen das große Glück, dass es im Universitätsklinikum eine psychosomatische Ambulanz und eine psychiatrische Sprechstunde gibt, die eine Ersteinschätzung vornehmen können.

Prof. Dr. H. Abele: Die gute Nachricht ist, dass die Depression in der Schwangerschaft und nach der Geburt in der Regel gut behandelbar ist. Eine unbehandelte Depression dagegen kann erhebliche Langzeitfolgen sowohl für die Mutter als auch für die Kinder und die ganze Familie zur Folge haben. Daher ist es sehr wichtig, diese Erkrankung ernst zu nehmen und eine gezielte Behandlung durch Expertinnen und Experten einzuleiten. Dabei können je nach Bedarf psychotherapeutische und/oder medikamentöse Behandlungsansätze verfolgt werden. 

Wichtig zu wissen: Eine medikamentöse Therapie kann auch in der Schwangerschaft und Stillzeit gut durchgeführt werden. Glücklicherweise verfügen wir heutzutage über wirksame, gut verträgliche Medikamente mit einer weitreichenden therapeutischen Sicherheit für die betroffenen Frauen und ihre Kinder.

Prof. Dr. H. Abele: Die Frage, wie lange die Behandlung bei einer Depression in der Schwangerschaft oder nach der Geburt dauert, lässt sich nicht allgemein beantworten. Hier spielen zu viele individuelle Faktoren eine Rolle. In vielen Fällen ist es so,  dass das Zusammenwirken mehrerer Faktoren zu einer psychischen Überlastungsreaktion führt – und diese Faktoren gilt es, Stück für Stück anzugehen. Die Chancen für einen Therapieerfolg sind jedoch hoch und daher sollte bei Verdacht auf eine Depression möglichst frühzeitig eine fachkundige Behandlung erfolgen. 

Wichtig ist, dass die betroffenen Frauen und ihre Familien in dieser Situation nicht alleine gelassen werden. Hier sind neben der medizinischen Behandlung auch weitere Unterstützungsangebote gefragt, von der Kinderbetreuung über professionelle Hilfe im Haushalt bis hin zu Beratungs- und Kurangeboten für die betroffenen Frauen selbst, aber auch ihre Partner und ggf. schon älteren Kinder.

Experteninterview mit Prof. Dr. med. Harald Abele: Depressionen in der Schwangerschaft

Prof. Dr. med. Harald Abele, MHBA

Prof. Dr. med. Harald Abele ist am Universitätsklinikum Tübingen als stellvertretender Ärztlicher Direktor der Geburtshilfe tätig und leitet dort zugleich das Perinatalzentrum sowie die Abteilung Hebammenwissenschaft. Innerhalb letzterer wurde vor einigen Jahren auch der primärqualifizierende Bachelorstudiengang Hebammenwissenschaft etabliert. Mehr zu Prof. Dr. med. Harald Abele