Die heilkundige Äbtissin
Hildegard von Bingen (1098 - 1179), Äbtissin vom Benediktinerinnenkloster Rupertsberg bei Bingen, hat eine eigene Krankheitslehre begründet. Diese erfreut sich in den letzten Jahren zunehmender Beliebtheit – Hildegard´s Wissen bewährt sich bis heute.
Hildegard von Bingen war und ist eine Ausnahmeerscheinung: Allein dass sie als Frau in ihrer Zeit eine solche Bedeutung erlangte, ist bemerkenswert. Dass ihr und ihren Werken zudem größte Wertschätzung seitens hochrangiger Würdenträger zuteil wurde, macht sie zu einer Persönlichkeit – die, wie es ein Kirchenhistoriker formulierte »in der ganzen christlichen Geschichte einzig und unerreicht dasteht«.
Zwischen Naturbeobachtung und geistiger Schau
Mit 16 Jahren wurde Hildegard Nonne. Schon weit davor, im Alter von fünf, war sie ihrer Veranlagung gewahr geworden, im wachen Zustand Visionen zu erleben. Diese Fähigkeit, von ihr selbst »Schau« genannt, blieb Hildegard bis zu ihrem Lebensende erhalten. Ihre Visionen ermöglichten es ihr nach eigenen Worten, »alle Dinge im Lichte Gottes auf sinnliche Weise« wahrzunehmen.
So dienten Hildegard – die mit dem medizinischen Wissen ihrer Zeit durchaus vertraut gewesen zu sein scheint – vor allem ihre durch Visionen erlangten Erkenntnisse und durch Naturbeobachtung gemachten Erfahrungen als Grundlage ihrer Heilkunde. Hildegards Aussagen über Herstellung, Einnahme und Aufbewahrung ihrer Arzneizubereitungen lassen in ihrer Ausführlichkeit auch klar auf Erfahrungen in eigener Praxis schließen.
Das Erbe Hildegards
Die Äbtisstin vom Rupertsberg hat der Nachwelt ein ungewöhnlich weit gefächertes literarisches Werk hinterlassen. Ihre natur- und heilkundlichen Schriften entstanden nach ihren eigenen Angaben in den Jahren zwischen 1150 und 1160: „Physica“ und „Causae et curae«. Bei der “Physica” handelt es sich um eine Beschreibung der den Pflanzen, Elementen, Flüssen, Mineralien und Tieren innewohnenden Heilkräfte, während die „Causae et curae” eine Pathalogie und Physiologie des Menschen zum Inhalt hat. Beide Schriften sind hinsichtlich der darin geschilderten psychosomatischen Zusammenhänge zwischen physischem und körperlichem Befinden gerade in heutiger Zeit bedeutsam – nicht umsonst erlebt die Medizin Hildegards seit geraumer Zeit eine Renaissance.
“Das Heil liegt in der Kunst des Lebens”
Die Heilkunde Hildegards begreift die Wiederherstellung der Gesundheit als untrennbare Einheit von körperlicher und psychischer Heilung – das, was wir heute als ganzheitlichen Therapieansatz bezeichnen. Bei Hildegard sind Körper und Psyche nur die beiden unterschiedlichen Kehrseiten einer Medaille, zwei verschiedene Aspekte einer Wirklichkeit. Psyche kann nur mittels Körper, Körper nur mittels Psyche existieren und so gesund erhalten und wieder geheilt werden. Demgemäß sind ihre Aussagen über Krankheitsursachen und Behandlungsmöglichkeiten stets auf drei Ebenen zugleich angesiedelt, die sich wechselseitig durchdringen und beeinflussen: auf jener der Welt an sich, jener des Körpers und jener der Psyche.
Als weiterer roter Faden durch die Hildegard-Medizin zieht sich die Lehre von den vier Elementen. Hildegard diente die Elementenlehre als Schlüssel zum Verständnis von Gesundheit und Krankheit. Denn, so notierte Hildegard einst, »wie die Elemente die Welt zusammenhalten, so bilden sie auch das Gefüge des menschlichen Organismus. Wenn sie im Menschen ordentlich wirken, erhalten sie die Gesundheit. Sobald sie aber von dieser Ordnung abgehen, machen sie ihn krank und töten ihn“.